C.G. Jung Gesellschaft Berlin
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Exkursion nach Venedig

Autor: Christiane Henke, Lina Launhardt · 11.03.2014

55th International Art Exhibition, Il Palazzo Enciclopedico, la Biennale di Venezia , Eingang des Zentralpavillons, Giardini Photo: Francesco Galli Courtesy: la Biennale di Venezia

Anlässlich der 55. Biennale in Venedig, in der C.G. Jungs Rotes Buch im Original an zentraler Stelle gezeigt wurde, hatte die Jung-Gesellschaft Berlin zu einem gemeinsamen Ausstellungsbesuch und zu einem Symposium in der Universität von Venedig  eingeladen. Im September 2013 haben sich Interessierte aus Italien, Deutschland, USA und der Schweiz in Venedig getroffen und über die Begegnung von Kunst und Psyche diskutiert. Im Mittelpunkt der Exkursion stand natürlich die Biennale selbst mit ihren zahlreichen Ausstellungen. Zwei Teilnehmerinnen der Exkursion haben ihre Eindrücke aufgeschrieben.

Venedig leuchtet

Photo: Lina Launhardt

Erste Eindrücke: Venedig leuchtet. Traumkulisse. Auf dem Vaporetto steht eine lächelnde japanische Braut im langen weißen Hochzeitskleid. Jemand sagt: Das wird alles von der Botschaft organisiert. An einem Haus hängt ein handbeschriebenes Bettlaken mit einer Parole gegen die Mafia. Schwarz-goldene Gondeln ziehen vorbei. An den Uferpromenaden liegen Bretter, auf denen man bei Hochwasser laufen kann. Auf dem Campo Santa Maria Nuova stehen rote Bänke unter Bäumen. Hinter der kleinen steinernen Brücke leuchtet die weiße Kirche Miraculi. Hier werden wir jetzt einige Tage wohnen.

Photo: Lina Launhardt

Das Symposium: Wir treffen uns in der Universität Venedig. Der Raum, den wir bekommen sollten und den wir auf den Einladungen angegeben hatten, wurde noch einmal geändert. Deshalb hängen wir beim ursprünglichen Treffpunkt Zettel auf. Weder der alte noch der neue Treffpunkt sind leicht zu finden. Venedig ist ein Labyrinth. Im zweiten Stock des Universitätsgebäudes wird uns ein kleiner Hörsaal zur Verfügung gestellt. Ungefähr 15 Leute sind da: Aus Venedig, Berlin, Mailand und Bologna. Einige kommen noch später dazu, weil sie den Raum nicht gleich gefunden haben. Prof. Madera von der Universität Mailand beginnt mit seinem spannenden Vortrag über „The Novelty of the Spirit in the Work in Red“. Er folgt dem Motiv der Farbe Rot, führt uns mit Hilfe dieses Leifadens durch Jung’s „Rotes Buch“ und zeigt Verbindungen auf zur Alchemie. Die zweite Vortragende ist Lina Launhardt. Sie spricht über „The Red Book, Zürich Dada and André Breton“. Die Verbindungen, die sie aufzeigt, zwischen den psychologischen Forschungen von C. G. Jung, den Surrealisten und den Dadaisten in Zürich, dürften den Wenigsten bekannt gewesen sein. Nach einer Pause geht es weiter. Günter Langwieler spricht über „The Red Book: An Experimental Expedition into the Hidden World of the Mundus Imaginalis“. Sein Thema sind die Imagination und die Welt der inneren Bilder. In seinem Beitrag zeigt er spannende Verbindungen auf zwischen Jung’s „schwerstem Experiment“ (dem roten Buch) und den Forschungen von Jungs Zeitgenossen Henri Corbin und Gaston Bachelard zur Imagination. Nach der Veranstaltung sitzen wir erschöpft und zufrieden am Wasser. Wir freuen uns schon auf den nächsten Tag, wo wir uns wieder treffen: Auf der Biennale.

Biennale: Wir treffen uns am Eingang mit unserem Führer Matteo. Ungefähr 20 Leute sind gekommen: Aus Berlin, Zürich, New York, Frankfurt, Bologna und Mailand. Der erste Raum: Unter einer leuchtend ausgemalten Kuppel liegt das rote Buch in einer Glasvitrine, bewacht von einem Wachmann in blauer Uniform. Seine rechte Hand liegt locker über einem dicken Revolver. In der gläsernen Vitrine sind zwei Seiten aus dem Liber Secundus des roten Buches aufgeschlagen. Zu sehen sind ein feuerspeiender Drache und eine Barke mit einer goldenen Kugel über grünem Wasser, das ein Ungeheuer birgt. Die Farben der Bilder leuchten viel lebendiger und intensiver als in der Druckfassung.

Carl Gustav Jung, Das Rote Buch, Detail Photo: Francesco Galli Courtesy la Biennale di Venezia

René Iché, Mask of Breton, ca. 1950 Gesso Plaster Collection Martin du Louvre, Paris Photo: Francesco Galli Courtesy: la Biennale di Venezia

Tafelzeichnungen von Rudolf Steiner und Skulptur von Walter Pichler Installationsansicht 55th International Art Exhibition, Il Palazzo Enciclopedico, la Biennale di Venezia Photo: Francesco Galli Courtesy: Biennale di Venezia

Eine graue Maske von André Breton hängt im Zwischengang zum nächsten Ausstellungsraum. Dort sind Tafelbilder von Rudolf Steiner zu sehen. Auf einem kleinen Podest steht die Skulptur eines großen hölzernen Engels im weißen Kleid, davor die Figur eines kleinen Menschen. Auf dem Parkettboden liegen zwei Künstler. Sie geben beatboxartige Töne von sich, bewegen sich dazu und beziehen sich auf immer neue Weise aufeinander. In einem großen grauen Raum steht das ca. 5 Meter hohe Modell eines 700 Meter hohen Turms, in dem der Modellbauer, der italienisch-amerikanische Karosseriebauer Marino Auriti, das Wissen der Welt versammeln wollte. Der Turm ist das Modell seines „Enzyklopädischen Palastes“, den Auriti als Design-Muster beim Patentamt anmeldete.

Marino Auriti Encyclopedic Palace of the World, ca. 1950s Installationsansicht 55th International Art Exhibition, Il Palazzo Enciclopedico, la Biennale di Venezia Photo: Francesco Galli Courtesy la Biennale di Venezia

Augustin Lesage, Composition symbolique sur le monde spiritual, 1925 Photo: Francesco Galli Courtesy: Biennale di Venezia

Auritis enzyklopädischer Palast wurde nie gebaut, doch er hat der diesjährigen Biennale ihren Namen gegeben. In einem weiteren Raum sind riesige ikonenartige kleinteilige Bilder zu sehen, gemalt von dem französischen Minenarbeiter Augustin Lesage, der mit 35 Jahren eine Stimme hörte. Die Stimme sagte ihm: „Male!“ Als er die Leinwände gekauft hatte, kam die Stimme ein zweites Mal. Diesmal sagte sie: „Du darfst die Leinwände nicht zerschneiden. Male groß.“ In den Pavillons der Länder gibt es eine ganze Reihe von Installationen, die Erfahrungen über mehrere Sinne vermitteln, nicht nur über das Sehen: Im Haus der Arabischen Emirate gibt es eine dunkle Höhle, in der man über Wasser gehen kann; im russischen Pavillon können sich die Frauen mit Gold beregnen lassen; im Pavillon des Vatikans (Santa Sede), der in diesem Jahr zum ersten Mal dabei ist, erscheinen Menschen auf einer Leinwand, die größer werden, wenn die Besucher sie berühren. Es geht um Schöpfung, Zerstörung und Erneuerung.
Christiane Henke, Oktober 2013

Das Rote Buch auf der 55. Biennale in Venedig – ein Rundgang durch die Präsentation

Carl Gustav Jung, Das Rote Buch Installationsansicht 55th International Art Exhibition, Il Palazzo Enciclopedico, la Biennale di Venezia, Photo: Beate Kortendieck-Rasche

Gleich den ersten Ausstellungsraum des Zentralpavillons der 55. Biennale in Venedig bespielte der „Liber Novus“, das Rote Buch von C. G. Jung. In der Mitte eines nur von einzelnen Lichtspots erhellten Kuppelraumes lag das Original, aufgeklappt und hinter Glas, näher als in musealem Sicherheitsabstand kam man dem Werk nicht. Ganz aus der Nähe hingegen ließen sich Fine-Art-Prints von 38 Einzelseiten des Roten Buches betrachten, die – auf Schautafeln in Augenhöhe aufgestellt und mit Lichtspots versehen – das Original in Form eines ovalen Rundgangs säumten. Wie ein Nadelöhr mussten die Besucherströme diesen Raum passieren, um in den daran anschließenden Ausstellungsparcours des „Palazzo Enciclopedico“, des „Enzyklopädischen Palasts“ von Massimiliano Gioni, dem diesjährigen künstlerischen Leiter der Venedig-Biennale, zu gelangen. Der unmittelbar angrenzende großflächige Raum empfing dann als hell ausgeleuchteter White Cube und stellte dort den üblichen Präsentationsrahmen von Kunst wieder her, zu deren Erkundung man sich ab dann seine eigenen Wege bahnen konnte.

Mit dieser zentralen Platzierung und theatralen Inszenierung wies Gioni dem Roten Buch kuratorisch eine Schlüsselrolle für die Gesamtkonzeption seiner Ausstellung zu. Der 39-jährige und damit bisher jüngste Kurator der Venedig Biennale platzierte eingangs Bilder, die einem inneren Wahrnehmungsprozess entlehnt sind. Sie wurden in einem dämmrigen Raum gezeigt, dessen Beleuchtung nur punktuell und zudem in unmittelbarer Nähe der Bilder vorgenommen wurde. Die Präsentation schien visuell nachzuvollziehen, was unanschaulich vor sich geht, wenn aus einem zunächst dunklen Nichts Bilder über die Bewusstseinsschwelle treten. Zugleich schien diese Präsentation betonen zu wollen, dass man hier einem Werk begegnete, das buchstäblich lange im Verborgenen gelegen hat. Bei genauerer Betrachtung des Rundraums erwies sich, dass die Bilder des Roten Buches nicht die einzigen waren, die der Besucher erblicken konnte. Richtete man seine Aufmerksamkeit nach oben, zierten das Innere der Kuppel Fresken, welche die verschiedenen Epochen der Weltgeschichte in symbolischer und konkreter Form zu einer Rundschau aneinanderreihten. Die Fresken stammen von einem italienischen Künstler der Jahrhundertwende und man wird seinen Namen im Ausstellungskatalog der Biennale vergeblich suchen. Doch, wie uns Matteo Giannasi, der uns durch die Ausstellung führte, verdeutlichte, ließ Gioni diese Kuppelbemalung, die unter einer eingezogenen Decke über mehrere Jahrzehnte einer Betrachtung entzogen war, freilegen. Gioni führte damit, als Auftakt seiner Ausstellung, nicht nur zwei der Öffentlichkeit lange unzugänglich gebliebenen Werke zusammen, sondern diese schienen auch die beiden inhaltlichen Fluchtpunkte des „Enzyklopädischen Palasts“ vorzugeben, die der Kurator in seinem Eingangsstatement im Katalog zur Ausstellung wie folgt formuliert hat:

»Blurring the line between professional artists and amateurs, outsiders and insiders, the exhibition takes an anthropological approach to the study of images, focusing in particular on the realms of the imaginary and the functions of imagination. What room is left for internal images – for dreams, hallucinations and visions – in an area besieged by external ones? And what is the point of creating an image of the world when the world itself has become increasingly like an image?«

Das originale Rote Buch hatte Gioni für die Präsentation in der Ausstellung auf einer zentralen Doppelseite des Liber Secundus aufschlagen lassen. Die Seite 53 konfrontierte den unvoreingenommenen Betrachter mit einer sich von einem dunklen Hintergrund abhebenden, aufrichtenden Schlange, deren Feuerzunge Licht in eine unbestimmte Umgebung trägt. Auf Seite 54 hingegen konnte der Betrachter eine Sonnenbarke auf einem wogenden Meer erblicken, von dessen Tiefen die Gefahr auszugehen scheint, verschlungen zu werden. Auf symbolischer Ebene verdichtet diese Doppelseite des Roten Buches Jungs Selbsterkundung des Unbewussten als einen Erkenntnisprozess wie auch als eine Nachtmeerfahrt. Zugleich hebt die Seitenabfolge das Rote Buch als eine „transkulturelle“ Bilderreise hervor, gibt einen Einblick in die kollektiven Bildvorstellungen, die sich in Jungs Imaginationen zu einem neuen Erzählfluss verknüpfen. In diesem Fall ließe sich zum Beispiel an die aufsteigende Kundalini der Yogaphilosophie denken, die auf jene eindeutig wiedererkennbaren Elemente der ägyptischen Mythologie der Folgeseite trifft. Die Schriftebene der Seite 54 bot dem Betrachter eine weitere inhaltliche Komprimierung des Roten Buches an, insofern auch die folgenden Zeilen das Unterfangen von Jungs Selbstexperiment mit seinen inneren Bildern als eine Grenzerfahrung wie auch als den „Urstoff für ein Lebenswerk“ in bildlicher Sprache zusammenfassen:

»Ein Wort, das nie gesprochen ward. Ein Licht, das noch nie leuchtete. Eine Verwirrung sondergleichen. Und eine Straße ohne Ende.«

Obwohl das Original hinter Glas und nur mit Abstand zu betrachten war, ermöglichte die Präsentation einen näheren Kontakt mit dem Roten Buch. Die im Original noch deutlicher sichtbare minutiöse Ausgestaltung der Imaginationen, ihre weitaus leuchtenderen Farben (obwohl die Faksimile-Reprint-Ausgabe des Roten Buches ja bereits eine hohe Bildqualität auszeichnet) verdeutlichten umso mehr die „kostbare Zeit“, die meditative Konzentration, Ausdauer und Hingabe, mit der Jung an diesem Buch gearbeitet haben muss. Ebenso schien der Autor des Werks durch die im Original wesentlich auffälligeren Spuren der Überarbeitung (z.B. Ausbesserungen der Schrift) greifbarer zu werden.

Die weiteren ausgewählten und als Fine-Art-Prints präsentierten Buchseiten entnahm Gioni ebenfalls dem Liber Secundus, in welchem Jung ja im Unterschied zum Liber Primus zu ganzseitigen Bildausarbeitungen übergegangen ist und die Bilder anstelle einer rein illustrativen Funktion zunehmend den Charakter von eigenständigen Repräsentationsformen des erlebten Prozesses annehmen. Für diesen „duplizierten“ Rundgang durch den Liber Secundus wählte Gioni für Abfolge, die bei jenen, die mit dem Roten Buch vertraut sind, zunächst ein wenig Verwirrung auslöste. Durchschritt man die Präsentation als einen Rundgang in der üblichen Leserichtung von links nach rechts, bahnte man sich rückwärts seinen Weg durch Bildauszüge des Liber Secundus. Gleich links am Eingang des Ausstellungsraums wurde die Seite 163, das „Goldene Schloss” gezeigt, es ist nicht das letzte Bild des Roten Buches, jedoch das letzte, welches er gänzlich ausgearbeitet hat[1]. Ab dann erfolgte die Präsentation von jeweils zwei Buchseiten auf einer Schautafel, wobei Gioni zwischen direkten Seitenabfolgen und größeren Seitensprüngen, die jedoch einen thematischen Zusammenhang wahrten, wechselte. Den Rundgang beendete abermals die Präsentation einer Einzelseite und bot die erste Seite des ersten Kapitels des Liber Secundus dar. Auch für den weniger kundigen Betrachter war diese „Rückwärtsbewegung“ durchaus nachzuvollziehen, da sie sich sichtbar in den sich rückläufig fortsetzenden Seitenzahlen der Einzelseiten spiegelte. Fraglich schien mir jedoch, ob dieser Umkehrprozess und die darin enthaltenen Sprünge, die nicht zuletzt auch direkt aufeinanderfolgende Seiten spiegelbildlich vertauschten, das Rote Buch als ästhetische Ausgestaltung eines sich fortsetzenden Imaginationsprozesses transparent werden lassen konnte. Widmet man sich ausschließlich den Bildabfolgen des Liber Secundus, lassen sich ja nicht nur beeindruckende Einzelbilder betrachten, sondern auch wiederkehrende Bildkonfigurationen und -elemente, die in ihrer Abfolge einen Transformationsprozess zu durchlaufen scheinen. Besonders deutlich – und als habe Jung diesen Aspekt noch einmal solitär im Roten Buch hervorheben wollen – macht dies der 18-seitige Bildprozess (S.80 -97), der zwischen den Kapiteln „Der Opfermord“ und „Die göttliche Narrheit“ wie ein eigenständiges Kapitel – oder sogar als „Buch im Buch“ – auftritt. In dieser Bildabfolge aktualisieren mandalaartige Gebilde wie nach einer Zellteilung oder Befruchtung ihre Gestalt immer wieder neu und heben so den Imaginationsprozess des Roten Buches als einen kontinuierlich fortschreitenden „Wandlungsprozess“ hervor. Dass sich Gioni sehr wohl für diesen Aspekt des Roten Buches interessiert zu haben scheint, legt die Aufnahme von Auszügen dieses 18-seitigen Bildprozesses nahe, die Gioni in seine chronologisch angelegte Rückwärtsbewegung durch das Rote Buch eingestreut hat. Doch auch in diesem Fall generierte der Kurator rückläufige Paare oder kombinierte Einzelbilder dieser Reihe mit anderen Einzelseiten des Buches.

Doch letzten Endes barg Gionis rückläufige Inszenierung, bezogen auf die räumlichen Begebenheiten, eine feine Nuance, in welcher sich dann auch die Darbietung der Einzelseiten des Roten Buches in einer Ambivalenz von aufgezeigter Kontinuität und vorgenommenen Brüchen und Sprüngen erschloss.

Das von Gioni eingangs präsentierte „Goldene Schloss“ stellt ja nicht nur das letzte gänzlich ausgearbeitete Bild des Roten Buches dar, sondern markiert in Jungs Biografie ein einschneidendes Erlebnis, das zu seiner Abkehr von der Arbeit am Roten Buch führte. Wie Jung in „Erinnerungen, Träume, Gedanken“ ausführt, erreichte ihn nach Fertigstellung des Bildes Post von Richard Wilhelm, welcher ihm ein chinesisches, taoistisch-alchemistisches Traktat, „Das Geheimnis der Goldenen Blüte“, zusandte, mit der Bitte an Jung, hierzu einen Kommentar zu verfassen. Nach der Lektüre dieses Textes fühlte sich Jung nicht nur darin bestätigt, dass die von ihm gezeichneten Mandalas (so auch das „Goldene Schloss“) als symbolische Repräsentationen von Zentrierungsvorgängen seiner inneren, psychischen Vorgänge aufzufassen seien, sondern er begann zudem, sich intensiv mit alchemistischen Texten und Bildwelten zu beschäftigen. Diese Beschäftigung mündete nicht nur in der These, dass die Alchemisten ihre eigenen psychischen „Wandlungsprozesse“ in den Stoff projizierten, sie gab Jung auch einen Schlüssel zum Verständnis des eigens durchlebten und im Roten Buch ausgestalteten Imaginationsprozesses als eines solchen Wandlungsprozesses in die Hand. Die markanten Entwicklungsphasen einer solchen Wandlung hat Jung bekanntlich als Stationen des „Individuationsprozesses“ in seinem psychologischen Werk ausgearbeitet. Das Rote Buch enthält nach Jung seine eigenen Stationen eines solchen Prozesses in symbolischer Form. Mit diesem Verständnis wich die Notwendigkeit einer weiteren ästhetischen Ausgestaltung -, so begründet es Jung in seinem ebenfalls unvollendet gebliebenen Nachwort des Roten Buches:

»Da fand der Inhalt dieses Buches den Weg in die Wirklichkeit und ich konnte nicht mehr daran weiterarbeiten.«

Gionis Umkehrung der gewohnten Leserichtung ließ den Fluss von Jungs inneren Bildern, den Imaginationsprozess des Roten Buches, nicht in einem hermetischen Innenraum enden, sondern führte ihn zum Anfang der Ausstellung, an die „Schwelle zur Wirklichkeit“, zurück. Dass der Betrachter diesen Fluss nicht als eine einheitsstiftende, sondern als eine fragmentarische Erzählung, in Brüchen und Sprüngen dargeboten bekam, erschloss sich meiner Ansicht nach als ein feiner Kommentar darauf, dass sich die individuelle Bedeutung, die der durchlebte Imaginationsprozess für Jung gehabt hat, letztendlich einer Darstellbarkeit entzieht.

Lina Launhardt

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[1] Für Interessierte hier die Chronolgie der gezeigten Buchseiten (v.l.n.r.): S.163, S.155+154, S.97+96, S.135+133, S.131+129, S.125+123, S.122+119, S.109+93, S.92+105, S.107+91, S.90+89, S.88+87, S.86+85, S.84+83, S.82+79, S.72+71, S.64+63, S.53+51, S.45+36, S.1

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