C.G. Jung Gesellschaft Berlin
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C.G. Jung und die Naturwissenschaft

Autor: Willy Obrist · 08.03.2010

Keine Materie ohne Geist.

Dies alles geschah innerhalb von ca. drei Jahrzehnten. Zuerst entfaltete sich  –  sozusagen exponentiell  –  die moderne Biologie. Hauptachsen waren dabei die Ethologie mit ihrer Wende zur Innerlichkeit sowie die molekulare Zellbiologie einschliesslich der Genetik. Parallel zur Biologie schritten Kosmologie und  Astrophysik voran. Nach der Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung konnte die Geschichte unseres Universums rekonstruiert werden. Nachdem es zudem gelungen war, den Lebenslauf der Sterne zu enthüllen, konnte auch die Evolution der Materie erkannt werden: zum einen die der Atome vom Wasserstoffatom bis zum Uran, zum andern   –  auf unserem Planeten  –  die der ‚Stoffe’ vom Elektrolyten bis zu den Proteinen.

Hatte man bis dahin unter Evolution nur diejenige der Lebewesen verstanden, konnte nun der gesamte ca. 15 Milliarden Jahre lang unaufhaltsam voranschreitende Prozess  der Komplexitätszunahme raumzeitlicher Gebilde überschaut werden, einschliesslich der Innerlichkeit der Lebewesen.

Indessen waren diese Erkenntnisse ausschliesslich unter der Dominanz des materialistischen Energieparadigmas gewonnen worden. Zwar war der ideologische Positivismus bzw. Materialismus, wie gesagt,  schon um 1900 durch den Nachweis der inneren Wahrnehmung gesprengt worden. Damit fiel   –  im Prinzip  – auch der Glaube dahin, der Energiebegriff der Physik genüge zur Erklärung der raumzeitlichen Wirklichkeit. Ausgesprochen hat dies wohl als Erster Wolfgang Pauli, indem er darauf hinwies, dass das Atom nur dann voll verstanden werden kann, wenn man es als Ganzheit auffasst. In der folgenden Zeit war noch eine ganze Reihe von Begriffen, die mit dem Energiebegriff nicht zu erfassen sind,  in die Wissenschaft eingeführt worden: Komplexität, Selbstregulation, System, Autopoiese, Spontaneität, Information, Kommunikation, Kognition, Verhalten usw.

Für alle diese Begriffe musste ein neuer Oberbegriff gefunden werden. Aus unserer sprachlichen Tradition bot sich dafür der Ausdruck ‚Geist’ an. Allerdings war klar, dass dieser mit dem heutigen Wissen über die Natur kompatibel sein musste.

Aber das Wissen über die Natur hatte sich nicht nur vermehrt. Ohne dass wohl die meisten Naturwissenschaftler sich dessen bewusst wurden, hatte sich ein Wandel im Verständnis des Naturgeschehens vollzogen: der Wandel von der bis dahin gültigen mechanistisch-deterministischen Naturauffassung zur systemischen.

Auch war im Rahmen humanwissenschaftlicher Forschung erkannt worden, dass wir  –   aufgrund der Funktionsweise unseres Bewusstseins  –  die ins Auge gefassten Sachverhalte in Begriffspaare zerlegen müssen. So können wir z.B. nur dann erfassen, was ‚klein’ bedeutet, wenn wir auch die Bedeutung von ‚gross’ erfassen. Der Strukturalist Levy-Strauss schuf dafür den Begriff ‚binäre Opposition’.

Nun hatte aber Niels Bohr beim Bemühen um die Lösung des Welle-Korpuskel-Problems der Quantenphysik die Begriffe ‚Komplementarität’ und ‚komplementäres Denken’ eingeführt. In den 70er Jahren wurde schliesslich erkannt, dass komplementäres Denken auch bei den obersten Paaren der Begriffspyranide  –  bei Materie-Geist sowie Leib-Seele  –   anzuwenden ist. Dies bedeutete, dass man nicht mehr von d e r Materie und d e m Geist reden soll, sondern nur noch von einem materiellen und einem geistigen A s p e k t  der an sich einheitlichen raumzeitlichen Gebilde.

Noch bestand aber das Problem, wie man am heutigen, unter dem materialistischen  Paradigma erworbenen  Wissen über die Natur den geistigen Aspekt vom materiellen abscheiden könne. Die Lösung ergab sich, als man darauf aufmerksam wurde, dass Physiker seit einiger Zeit Materie als geordnete Energie definieren, und dass diese Definition zwei unterschiedliche Aussagen enthält: zum einen, dass Materie aus Energie  b e st e h t, dass aber die Energie drin  a n g e  o r d n e t  ist. Man musste somit an jedes raumzeitliche Gebilde  –   vom Atom bis hinauf zum Menschen  –  zwei Fragen stellen:  „W a s  ist darin angeordnet?“ und  „W i e  ist dieses Was angeordnet? Als Antwort auf die Frage nach dem Was ergab sich dessen materieller Aspekt, auf die Frage nach dem Wie  –  da Angeordnetsein mit dem Energiebegriff nicht erfasst wird   –   dessen geistiger.

Verfolgt man nun, wie das Angeordnetsein im Verlauf der Evolution immer komplexer geworden ist, entfaltet sich vor unseren Augen ein immer facettenreicherer Begriff des objektiv Geistigen bzw. des Geist-Aspekts der Natur (Ausführlich dargestellt habe ich das  in meinem Buch ‚Die Natur, Quelle von Ethik und Sinn’).  Als Quintessenz können wir sagen: „Es gibt keine Materie ohne Geist“. Die neue Weltsicht, die sich aus dem fundamentalen Wandel des europäischen Bewusstseins ergibt, ist somit nicht mehr dualistisch wie die archaische es gewesen ist, sondern unistisch im Sinn von Unio – Vereinigung der Gegensätze. Sie entspricht somit  jener Sicht der Wirklichkeit, um die C.G Jung während Jahren gerungen hat.

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