C.G. Jung Gesellschaft Berlin
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C.G. Jung und die Naturwissenschaft

Autor: Willy Obrist · 08.03.2010

Erweiterung des Empiriebegriffs und Folgen.

Zwar lehnten Zeitgenossen das empirische Fundiertsein dieser Aussagen ab. Insbesondere Theologen beflissen sich, diese  –  wegen der Konsequenzen, die sich daraus für ihr Weltbild ergeben  –  als blosse Spekulation hinzustellen. Dem gegenüber ist indessen auf die Entwicklung des Empiriebegriffs  –   des Begriffs des Wahrnehmbaren  –  hinzuweisen: auf eine Entwicklung,  die im Verlauf der Neuzeit stattgefunden hat, und die von Theologen offenbar noch nicht zur Kenntnis genommen wurde.

Bis zum Ende des 19. Jh. galt nämlich nur das als empirisch erwiesen, was mit den Sinnen  –  auch den apparativ verlängerten  –  wahrgenommen war. Dieser sog. methodische  Positivismus war in der Pionierzeit empirisch-wissenschaftlichen Forschens nötig, um von dem bis dahin ausgiebig geübten ‚Wissensgewinn’ durch Mythisieren loszukommen. Im Zeitalter der Aufklärung verengte sich dann der methodische Positivismus zum ideologischen: zur Aussage, was mit den Sinnen nicht wahrnehmbar sei, existiere nicht. Dies führte zur materialistischen Weltsicht.

Als aber Freud nachwies, dass Träume nicht vom Ich gemacht werden, wie Materialisten glaubten, sondern dass das Ich diese als fertige, semantisch und syntaktisch strukturierte     Gebilde wahrnimmt, war nachgewiesen, dass auch Information ins Bewusstsein gelangt, die nicht über die sinnlichen Wahrnehmungssysteme fliesst. Damit war der in der Wissenschaft bis dahin allein anerkannte positivistische Empiriebegriff erweitert, und die Enge des ideologischen Positivismus gesprengt worden.

Um den neu entdeckten  Informationsstrom vom sinnlichen begrifflich abzugrenzen, wird er heute als innerer bezeichnet und der durch ihn erschliessbare Bereich der Lebewesen als deren Innerlichkeit. Eingeführt wurde der Begriff  ‚Innerlichkeit’ vom Basler Biologen Adolf Portmann. Er ist im Rahmen unserer Betrachtung geeigneter als ‚Psyche’, da die Tiefenpsychologie  methodischen Zugang nur zur menschlichen Innerlichkeit hat. Wenn sie diese  als Psyche bezeichnet, ist dies der jetzt gebräuchliche Ausdruck für das, was man früher Seele nannte. Allerdings glaubte man bei archaischer Weltsicht noch, die Seele sei zu selbständiger Existenz fähig: eine Vorstellung, die  gerade durch den Nachweis der Artspezifität des Unbewussten sowie der Projektion überwunden worden ist.

Durch die Verhaltensforschung (Ethologie), die sich seit der  Mitte des 20. Jh. mächtig entfaltete, ist dann der Begriff ‚Innerlichkeit’ auf alle Lebewesen ausgeweitet worden. Allerdings untersucht die Ethologie die kognitiven Fähigkeiten der Tiere mit anderen Methoden als die Tiefenpsychologie, indem sie aus sinnlich erfassbaren Äusserungen auf deren Innerlichkeit schliesst. Indessen ist zu beachten, dass  auch Tiere als unbewusste Wesen zu bezeichnen sind. Zwar hat die Verhaltensforschung gezeigt, dass viele Arten kognitive Leistungen vollbringen, in denen sich ein hoher Grad von Intelligenz  manifestiert. Oft wird dies als Beweis dafür angeführt, dass auch Tiere Bewusstseins besitzen. Intelligenz und Bewusstsein sind jedoch verschiedene Dinge. Bewusstsein trat erst beim Schritt vom tierischen Primaten zum Menschen in die Welt. Zu bedenken ist auch, dass  Ethologen den Ausdruck ‚unbewusst’ nicht  gebrauchen, Da sie der Evolutionsachse entlang aufwärts denken, sagen sie stattdessen  –  falls sie Bewusstheit dem Menschen allein zuschreiben  –   ‚vorbewusst’. Damit soll ausgedrückt sein, dass ihre Untersuchungsobjekte das Evolutions-niveau der Bewusstheit noch nicht erreicht haben. Gemeint ist natürlich mit beiden Aus-drücken das Gleiche. Interdisziplinarität ist eben meistens erst einmal ein sprachliches Problem.

Für die Tiefenpsychologie war die Arbeit der Ethologen sehr hilfreich und weiterführend. Zum einen haben diese  –  ohne es zu beabsichtigen  –  die Entdeckungen Jungs bestätigt bzw. mit handfesten Befunden untermauert. Zum andern haben sie Bereiche des Unbewussten erschlossen, die der tiefenpsychologischen Methode nicht zugänglich sind. Dadurch wurde der Bedeutungsumfang des Begriffs ‚das Unbewusste’ noch beträchtlich erweitert.

Bestätigt wurde z.B. Jungs Entdeckung der Artspezifität, geht doch das Bemühen der Ethologen gerade dahin, die Verhaltensrepertoirs   –  das Gesamt der kognitiven Strukturen    –  der verschiedenen tierischen Spezies herauszuarbeiten. Dass diese phylogenetisch erworben sind, ergab sich aus dem von Konrad Lorenz erbrachten Nachweis, dass Verhaltensmuster ebenso wie körperliche Strukturen vererbt werden. Behavioristen haben dies lange bestritten.

Ferner hat die Verhaltensforschung, wie erwähnt,  die ausserordentliche  Leistungsfähigkeit unbewusster kognitiver Systeme aufgezeigt. Ist schon das verblüffend, was Ethologen  mit ihren Methoden darüber erarbeitet haben, wurde es noch gesteigert durch das, was molekulare Zellbiologen ans Licht gebracht haben: welch unvorstellbare Menge komplizierter, programmgesteuerter Prozesse in einer einzelnen Zelle ablaufen; ebenso wie diese miteinander vernetzt  und zentral gesteuert sind.

Mit deren zentralem Gesteuertsein wiesen sie auch für das Tierreich jenen Sachverhalt nach, den Jung bei der menschlichen Psyche als Selbst bezeichnet hat. So müsste man denn sagen, Ethologie und Zellbiologie haben nachgewiesen, dass allen Lebewesen ein Selbst zuzuordnen ist. Im Falle des Einzellers wäre dies natürlich   –  verglichen mit dem menschlichen  –  ein noch recht einfaches Selbst.

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